Zur Geschichte unserer KHG: 90 Jahre Kirche an den Hochschulen in Gießen

Entwicklung, Höhepunkte und Probleme – Die KHG Gießen: ein Haus mit vielen Menschen, Meinungen und Ideen – Beitrag von Fabian Stein im neuen KHG-Buch 

2016 hat die Katholische Hochschulgemeinde Gießen (KHG) ihr 90-jähriges Jubiläum gefeiert. Es stand unter dem Motto „90 Jahre Kirche an der Hochschule“. Aus diesem Anlass hat die KHG ihr ehemalige Mitglied Fabian Stein, einen Historiker, gebeten, über Entwicklung, Höhepunkte und Probleme aus 90 Jahren Kirche an den Hochschulen in Gießen aufzuzeigen. Sein lesenswerter Beitrag über „90 Jahre Kirche an den Hochschulen in Gießen“ ist aus Anlass des Jubiläums im Anhang des neuen KHG-Buches „Herausforderung Integration“ veröffentlicht worden. Darin wird eindrucksvoll ein Ein- und Ausblick über die wechselvolle katholische Präsenz  seit der Gründung der Universität Gießen vor über 400 Jahren und an den Universitäten in Hessen gegeben. Es ist zugleich ein Beitrag über Entwicklung und Stand von Hochschulpastorale in Deutschland und zum Umgang der Kirche mit dem Themenspektrum Hochschule.

Fabian Stein studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und an der Université Michel de Montaigne in Bordeaux. Zwischen 2010 und 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität und ist seit 2015 Projektkoordinator am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Gießen. Ab 2005 war Fabian Stein in der Katholischen Hochschulgemeinde Gießen aktiv und seit 2015 ist er Vorsitzender des Pfarrgemeinderates der Kirchengemeinde St. Albertus in Gießen.

Die Katholische Hochschulgemeinde in Gießen ist eine von 125 Hochschulgemeinden bzw. Studentengemeinden in Deutschland. In Hessen sind es acht Hochschulgemeinden, die sich teilweise über mehrere Hochschulstandorte erstrecken.

Zu den Anfängen katholischer Präsenz und Studentenseelsorge

Wie Fabian Stein berichtet, beginnt die seelsorgerische Betreuung von Studierenden in Deutschland 1912/13 mit der Berufung des ersten hauptamtlichen Studentenseelsorgers in Freiburg im Breisgau. Diese Funktion wurde etwas mehr als ein Jahrzehnt später auch in Gießen besetzt, so dass seit 1925 von „Kirche an der Hochschule“ in Gießen gesprochen werden kann. Natürlich existierten schon davor Formen der geistlichen Betreuung von Studierenden. In zwei Abschnitten beschreibt Stein die Anfänge der Hochschulseelsorge an der Universität Gießen und über die schwerwiegenden Folgen des Zweiten Weltkrieges für Stadt und Universität. Da Gießen als Folge der Reformation seit dem Jahr 1527 zum evangelischen Bekenntnis gehörte, verschwanden katholische Einrichtungen über die folgenden Jahrhunderte. Weil die Gründung der Universität erst nach der konfessionellen Teilung im Jahr 1607 erfolgte, konnte kein katholischer Einfluss in der Hochschule fortgeführt werden, weil es zuvor keine Zeit zur Etablierung gegeben hatte. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts erhöhte sich die katholische Präsenz in Folge konfessioneller Toleranz langsam wieder. Seit 1784 durften katholische Professoren und Studierende wieder sonntägliche Messe feiern und im Jahr 1791 verfügte Gießen über den ersten katholischen Pfarrer seit der Reformation. Zum Wintersemester 1830/31 wurde die katholische Fakultät an der Gießener Universität eröffnet. Von da an wurde das Amt des katholischen Stadtpfarrers nach dem Bericht nicht nur von einem Theologieprofessor übernommen, sondern die Studierenden der katholischen Theologie gehörten zu einem nicht unerheblichen Teil zum Kern der Gießener Gemeinde, die allerdings nur etwas mehr als 500 „Seelen“ umfasste.  Mit der Schließung der Fakultät 1851 änderten sich die Verhältnisse wieder und als Pfarrei St. Bonifatius bildet sie bis heute einen der Kerne der katholischen Seelsorge in Gießen. Nach dem Ersten Weltkrieg löste sich deutschlandweit die Hochschulseelsorge mit eigenen Stellen für Hochschulpfarrer aus dem bisherigen pastoralen Gefüge. Auch in Gießen zeigte sich diese Entwicklung mit der Ernennung des ersten Studentenpfarrers zum 1. Mai 1925.  

Für die Stadt Gießen und ihre Universität haben das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg katastrophale Folgen gehabt. Die Stadt befand sich mit dem fast vollkommen zerstörten Zentrum in einem „niederschmetternden“ Zustand, was auch für die halbzerstörte Universität zutraf. Die Universität wurde nicht wieder eröffnet, und 1946 entstand die Justus-Liebig-Hochschule, in der Landwirtschaft, Veterinärmedizin samt den notwendigsten Naturwissenschaften sowie seit 1950 die Humanmedizin zusammengefasst wurde. Erst 1957 erhielt die Gießener Hochschule wieder den Status einer Volluniversität. Seit der Wiederbegründung trägt die frühere „Ludwigs-Universität“ den Namen „Justus-Liebig-Universität“.

Die zweite Hälfte der 1960er Jahre waren gesellschaftspolitisch bewegte Jahre, gerade auch an den Hochschulen. Die „68er“ haben eine ganze Generation und Deutschland bis heute geprägt. Wie Fabian Stein beschreibt, hat diese Zeit auch die Diskussionen und Entwicklungen der katholischen Studentengemeinden an den deutschen Hochschulen je nach Standort mehr oder weniger stark beeinflusst. Nach seinem Bericht hat es in der KSG Gießen keine heftigen politischen Debatten gegeben, doch haben die Diskussionen zur Rolle von Kirche und Religion sowie die Auseinandersetzungen um Demokratisierung und kritischer Wissenschaft bei aktiven Mitgliedern der KSG Gießen im persönlichen Bereich sich durchaus nachhaltig ausgewirkt.

Die Entwicklung in den vergangenen fünfzig Jahren - Kettelerhaus in der Wilhelmstraße 28 wird zum Treff- und Anlaufpunkt

Zwar sind die Quellen für eine Chronik der Hochschulseelsorge in Gießen nach Stein eher spärlich, doch werden von ihm die Entwicklung und die Organisationsformen der katholischen Präsenz und die Studenten- und Hochschulgemeinde an den Hochschulen in Gießen für die vergangenen fünfzig Jahre und ihre Schwerpunkte ausführlich nachgezeichnet. Dies geschieht anhand der seit dem Wintersemester 1966/67 für jedes Semester erscheinenden Programmhefte. Die Semesterprogramme sowie die geplanten Veranstaltungen und die verschiedenen Arbeitsgruppen geben Auskunft über die thematische Ausrichtung der Hochschulgemeinde.

Kirche an der Hochschule bedarf nicht nur einer bestimmten Organisationsform, wie Stein betont, sondern auch eines bestimmten Ortes als Treff- und Anlaufpunkt. Die frühere Villa Emmelius  und heutige Kettelerhaus in der Wilhelmstraße 28/Ecke Ludwigstraße ist seit 1963 das Zentrum der Katholischen Hochschulseelsorge und der Treff- und Sammelpunkt der Katholischen Studentengemeinde in Gießen.

Die Katholische Studentengemeinde (KSG) umfasste in den 1960er Jahren lediglich die katholischen Studierenden. Sie war die Pfarrgemeinde aller katholischen Studierenden an der Universität, der Ingenieursschule und den Lehranstalten für medizinisch- technische Assistentinnen und Assistenten. Seit dem Wintersemester 1973/74 ist aus der KSG eine KHG, eine Katholische Hochschulgemeinde geworden, deren Name bis heute existiert. Der Namenswechsel war nicht nur kosmetisch, sondern damit war eine programmatische Neuausrichtung über die Studierenden hinaus verbunden. Die KHG versteht sich seitdem als Treffpunkt für alle interessierten Hochschulangehörigen, neben den Studierenden auch für potentielle Interessierte aus der wachsenden Anzahl von Lehrenden an den Gießener Hochschulen.

Seit den 1960ern Jahren ist Vernetzung ein integraler Bestandteil von KSG und von KHG und ein strukturelles Element in der Organisation der Hochschulgemeinde, wie in den Semesterprogrammen erkennbar. So besteht seit den 60er Jahren unterbrechungslos die Verbindung mit der Evangelischen Studenten- bzw. Studierendengemeinde Gießen sowie die Bildung gemeinsamer Arbeitsgruppen, die stark vom ökumenischen Geist getragen wird. Zu den sogenannten „Gastgruppen“, die zwar nicht Teil der Hochschulgemeinde, aber ihr verbunden sind und im Kettelerhaus tagen, gehört seit dem Wintersemester 1982/83 die Gruppe 1060 von Amnesty International.  

Das Profil der Hochschulgemeinde zeigt sich auch an den Veranstaltungen. Die Bandbreite reicht von theologischen Kolloquien, über politische Gesprächskreise bis hin zu sozialen Arbeitskreisen sowie Literaturabenden, Kunstaustellungen und Vorträgen. Dazu gehören auch eine Vielzahl von Freizeitgestaltungsangeboten sowie die Möglichkeit zum geselligen Beisammensein wie beispielsweise die beliebten „Kaffeerunden“ oder „Kellerbarabende“. Bei den Arbeitskreisen bzw. -Gruppen zeigt sich auch durchgehend eine internationale Perspektive wie etwa dem „AK Dritte Welt“ oder dem „Forum Eine Welt“. Eine besondere Tradition hat die Verbindung mit Südamerika, auch ist die KHG Gießen ein Kontaktort für Afrika. Aus dem musikalischen Zusammenschluss als „Afrikanischer Chor“ ist seit 2000 aus den Programmen der KHG und mit ihrem Mitwirken bei Hochschulgottesdiensten die „Stimme Afrikas“ nicht mehr wegzudenken.

Das 1999 eingeführte Logo prägt bis heute die ansprechende und aussagekräftige Corporate Identity (CI) und Erscheinungsform der KHG Gießen. Das Logo zeigt ein Haus, in dessen Mitte sich ein Kreuz befindet. Es verwendet also das prägnanteste christliche Symbol. Es steht im wahrsten Wortsinn im Zentrum und besagt: Hier findest du Menschen, die andere treffen wollen, die etwas los machen, die gemeinsam feiern – und Menschen, die dich in Lebens- und Glaubensfragen beraten können. Die KHG Gießen ist ein Haus mit vielen Menschen, Meinungen und Ideen.

Die Auflistung der in der Studenten- bzw. Hochschulseelsorge tätigen Pfarrer in Gießen mit ergänzenden Angaben zu den Personen beschließt den Beitrag.

 

Bibliographische Angaben zu dem Beitrag:

Fabian Stein: 90 Jahre Kirche an den Hochschulen in Gießen. Entwicklung und Schwerpunkte im Spiegel der Semesterprogramme. In: Siegfried Karl, Hans-Georg Burger (Hrsg.): Herausforderung Integration – Wie das Zusammenleben mit Geflüchteten und MigrantInnen gelingt. (Schriftenreihe "Dialog leben", Bd. 4). Gießen: Psychosozial-Verlag, 2018, S. 299-342.